DARMSTADT
„Frankfurt fürchtet Bordell-Welle“, titelte ein öffentlich-rechtlicher Rundfunksender, eine Zeitung erklärte die „Ära der Sperrgebiete“ bereits für beendet: Nach dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) in Kassel herrscht Aufregung in der Stadt am Main. Denn jetzt müssen bestehende Sperrgebietsverordnungen, die regeln, wo Prostitution erlaubt ist und wo nicht, auf den Prüfstand – auch in Darmstadt.
„Mit dem Urteil ist eine gewisse Rechtsunsicherheit geschaffen“, sagt der Darmstädter Fachanwalt für Verwaltungsrecht Tobias Timo Weitz. „Aufgrund des Urteils sind bestehende Sperrgebietsverordnungen letztlich wohl nicht mehr zulässig.“
Was war passiert? Die Kasseler Richter erlaubten es einem Grundstückseigentümer, in seinem Wohnhaus in Bornheim Räume an ein „Massagestudio“ zu vermieten. Die Stadt Frankfurt hatte das zuvor mit Verweis auf die Sperrgebietsverordnung untersagt. Dass durch den sehr diskreten Betrieb der „öffentliche Anstand“, den die Verordnung aus dem Jahr 1993 schützen soll, gefährdet sei, bezweifelte das Gericht.
Die Verordnung sei nicht mehr vereinbar mit geltendem Recht: Das Prostitutionsgesetz hat 2002 das Gewerbe legalisiert und hob die Einordnung als „sittenwidrig“ auf. Das Bundesverfassungsgericht entschied 2009, Prostitution störe nicht automatisch den öffentlichen Anstand – die historische Begründung für die Sperrgebiete. Die Stadt, so das Gericht, hätte deshalb im konkreten Fall eine Toleranzzone ausweisen können oder gar müssen.
Die Darmstädter Sperrgebietsverordnung wurde im Jahr 2000 vom Regierungspräsidium erlassen und regelt nicht die Wohnungsprostitution, sondern legt die „Toleranzzone“ in der Bismarckstraße und der Kirschenallee fest. Wegen Beschwerden von anliegenden Betrieben wie Evonik-Röhm hat die Stadt Darmstadt im Oktober eine Verlegung des Gebiets beim Regierungspräsidium beantragt.
Das hatte bereits zu dieser Zeit die Verhandlung in Kassel im Blick, sagt RP-Sprecher Dieter Ohl: „Wir haben den Änderungswunsch der Stadt zurückgestellt, weil wir auf das Urteil warteten.“ Auf der Grundlage des Richterspruchs, der noch nicht in Schriftform vorliegt, berate man sich in den kommenden Wochen mit der Stadt und eventuell auch mit dem Innenministerium.
Dass auch Darmstadt eine „Bordell-Welle“ bevorstehen könnte, bezweifle man bei der Stadt allerdings, sagt Pressesprecherin Sigrid Dreiseitel: Der Frankfurter Fall sei anders gelagert, da in der Darmstädter Sperrgebietsverordnung ausschließlich die Straßenprostitution geregelt sei. „Das heißt, über die Ansiedlung von entsprechendem Gewerbe entscheidet ganz normal die Bauaufsicht.“ Die erschwert es ohnehin, dass sich Gewerbe in reinen Wohngebieten ansiedelt.
Wenn es um den Jugendschutz geht – etwa wenn Anwohner ein Bordell nahe einer Schule vermuten – gehe man Hinweisen nach. Das passiere im Schnitt etwa zwei oder drei Mal im Jahr. Und die Straßenprostitution? Können die Sexarbeiterinnen jetzt einfach den Standort wechseln? Nein, sagt Dreiseitel: „In Sachen Toleranzzone hat das Urteil aus unserer Sicht keine direkten Auswirkungen.“ Freilich müssten jetzt die Juristen klären, wie das Urteil aus Kassel genau zu interpretieren sei.
Dass vor Ort einfach Fakten geschaffen werden können – etwa durch eine eigenhändige Verlegung des Straßenstrichs in andere Gebiete – bezweifelt auch Anwalt Weitz: „Wenn etwa ein paar Meter weiter ein Kindergarten liegt, kann das Ordnungsamt mit Verweis auf den Jugendschutz eingreifen.“ Das Urteil erlaube auch explizit nicht Prostitution in Wohngebieten. Es sei eine Einzelfallentscheidung – mit dem wichtigen Nebeneffekt, dass man solche Gewerbe außerhalb des Sperrgebiets nicht mehr pauschal verbieten könne. „Man muss im Einzelfall prüfen: Hat es hier schädliche Auswirkungen?“, sagt Weitz.
Denen, die einen entsprechenden Betrieb führen, der verboten werden soll, gebe das Urteil zusätzliche Munition: „Das würde ich dann in jedem Fall anfechten – selbst wenn es im Wohngebiet liegt.“
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