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Alt  09.01.2018, 13:34   # 1286
yossarian
Pareidoliker & Oneironaut
 
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Schwierige Vergangenheitsbewältigung

In einem Berliner Hotel lernte ich mal eine japanische Doktorandin kennen, die über die deutsche Erinnerungskultur promovierte. Wie unterhielten uns lange. Für die Japaner scheint das sensationell zu sein, wie wir mit uns selbst zu Gericht sitzen.
Wie schwer das ist, sieht man an den USA. Im Vietnamkrieg gab es ein völlig unprovoziertes Massaker im Dorf My Lai:
Am 16. März 1968 hatte eine Gruppe US-amerikanischer Soldaten der Task Force Barker den Auftrag, Mỹ Lai, Dorf Sơn Mỹ, Kreis Sơn Tịnh, Provinz Quảng Ngãi einzunehmen und nach Kämpfern des Vietcong zu durchsuchen, da die Bewohner aus Sicht des US-Militärs als potenzielle Unterstützer des Vietcong galten.

Die Soldaten vergewaltigten Frauen und ermordeten fast alle Bewohner des Dorfes: 504 Zivilisten, darunter zahlreiche Kinder, Frauen und Greise. Auch sämtliche Tiere wurden getötet. Nur wenige Soldaten verweigerten den Befehl zum Mord. Erst der US-Hubschrauberpilot Hugh Thompson, der sich auf einem Aufklärungsflug befand, zwang die Soldaten, elf Frauen und Kinder zu verschonen: Er drohte, seine Bordschützen Glenn Andreotta und Lawrence Colburn mit dem MG auf die amerikanischen Soldaten feuern zu lassen, wenn diese weiter töteten. Dann brachte er die Geretteten in Sicherheit. Für ihr Eingreifen wurde die Hubschrauberbesatzung ausgezeichnet; die Ehrungen wurden dreißig Jahre später mit der Soldier’s Medal aufgewertet.
Der für das Massaker verantwortliche Offizier William Calley saß nur drei Tage im Gefängnis und bekam ansonsten Hausarrest. Er genoss große Sympathien in weiten Teilen der amerikanischen Öffentlichkeit.
Ich besuchte Anfang 2017 eine italienische DL, ca. 25 Jahre alt. Beim postkoitalen Smalltalk sprachen wir auch über italienische Geschichte, da ich damals an einem Vortrag darüber arbeitete. Sie hatte im Schulunterricht kein Wort vom italienischen Diktator und H*tler-Vorbild Mussolini gehört. Sie kannte zwar den Namen, aber keine Details.
In Putins Russland werden vereinzelt sogar neue Stalin-Statuen aufgestellt.
Sollte jemand die Mao-Biografie von Chang und Halliday kennen, sie ist das erschreckende Buch über den in China heute hochverehrten Massenmörder. Ich sprach mal einen chinesischen Filosofiedoktoranden darauf an. Er sagte brüsk: Das glaube ich nicht.
Seien wir also stolz darauf, dass es bei uns eine Vergangenheitsbewältigung gibt und gab, aber man hätte früher damit anfangen können und mehr tun. Noch besser wäre es natürlich, wir hätten keine solche Vergangenheit gehabt.
Im Augenblick denke ich bei allerlei Ereignissen daran, dass es auch eine Gegenwartsbewältigung geben sollte.
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Wer glaubt im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein, scheitert am Gelächter der Götter. (frei nach Albert Einstein)
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