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Alt  07.04.2006, 17:53   # 51
NailLover
 
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NailLover ist offline
Night on Earth

Für die letzten paar Kilometer hinauf zum Schloss rufen wir ein Taxi herbei. Wir nehmen im Fonds des Wagens Platz, der eine links, der andere rechts, und fahren zunächst noch durch die engen Straßen der Musil-Stadt. Von unserem Chauffeur nehmen wir während der ganzen Fahrt, das Dunkel der Nacht hat sich bereits über die Stadt gelegt, kaum mehr wahr als seinen schwarzgelockten Hinterkopf und den in seinen Beiträgen zu dem sich entspinnenden Diskurs zum Ausdruck kommenden Pragmatismus. Ein sprichwörtlicher Taxifahrerpragmatismus, der es in sich hat und den es in dieser Reinform vielleicht nur noch in Österreich gibt.

Unser Chauffeur kennt die Welt und seine Stadt und natürlich auch das Ziel, das wir ihm nennen: „Zum Babylon bitte!“ Und will uns schon allein deswegen nicht glauben, dass wir als vorgebliche Kulturreisende ausschließlich in Sachen Robert Musil hier unterwegs sind. Der entsprechende Hinweis war tatsächlich nur als Gag gemeint, um ihn ein wenig aus seiner dunklen Reserve zu locken. Ohne viel Aufhebens lassen wir denn auch das Musil-Haus links oder rechts, wo genau weiß ich nicht mehr, liegen und steuern konsequent auf das genannte Ziel zu. Babylon! Aber der Name mag unserem Chauffeur nicht so recht gefallen. „Schloß Freyenthurn hört sich besser an“, da klingt „die ganze Tradition“ durch, werden wir belehrt. Das wollen wir nicht so einfach akzeptieren und spielen, vielleicht ein wenig zu oberlehrerhaft, unsere mühsam erworbene Halb- oder Viertelbildung aus: Babylon kann auf eine weit längere Tradition zurückblicken, triumphieren wir, Babylon stand an der Wiege der Menschheit und der menschlichen Kultur (Mesopotamien!, Zweistromland!) und war noch dazu Ausgangspunkt der sprichwörtlich gewordenen Sprachverwirrung!

Von wegen Sprachverwirrung: Der große Sohn der Stadt wenigstens beherrschte die Sprache absolut perfekt. Unser Chauffeur weiß sogar den Titel des Hauptwerks von Robert Musil zu nennen: Der Mann ohne Eigenschaften. Zumindest kennt er den Titel ungefähr, er spricht davon, dass es irgendwie um einen „Mann“ geht. Aber gelesen hat er den Roman natürlich nicht. Das ist nicht weiter tragisch, so wenig wie es zwingend ist, dass alle Salzburger Mozartkugeln mögen. Und doch steht oder besser fährt unser Chauffeur in der direkten Tradition Musils. Zwischen dem „Mann ohne Eigenschaften“ und seinem Taxifahrerpragmatismus gibt es nämlich, wie man das heute neuhochdeutsch nennt, einen signifikanten Link.

Dieser Link besteht im Möglichkeitssinn und seiner Glorifizierung zu einem schlechthin pragmatischen Prinzip im Denken und Schreiben Musils: Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben! Das ist Pragmatismus pur! Wir locken unseren Chauffeur mit diesem schönen Satz und konkretisieren im selben Atemzug, dass wir uns am Ziel unserer kurzen Taxifahrt jede Menge verlockende „Möglichkeiten“ erhoffen. Wir haben mittlerweile die Stadt hinter uns gelassen und fahren Richtung Mini Mundus. Das mit den verlockenden Möglichkeiten versteht unser Fahrer auf Anhieb. Im Taxi sind wir uns allesamt einig, dass es sich bei den besagten Möglichkeiten an unserem Zielort nur um Frauen, nur um schöne Frauen zumal handeln kann: Und die seien „dort droben alles andere als zurückhaltend“, macht unser Chauffeur uns den Mund wässrig.

Ob er denn schon einmal „drinnen“ gewesen sei, da droben? „Nein“ (das „leider“, das wir hier eigentlich hätten hören wollen, hat er einfach verschluckt) , aber er fährt ja viele Leute hinauf und auch wieder hinunter – jetzt sind wir tatsächlich schon in den Spitzkehren kurz vor unserem Ziel, die die vielen italienischen und ergo einigermaßen radsportbewanderten Gäste sicherlich immer auch ein wenig an Alpe d’Huez denken lassen – und die sprechen immer wieder davon, dass es sich da droben um „das beste Bordell ganz Europas“ handeln soll. Die verschiedenen „Verkehrsformen“ scheinen hier Hand in Hand zu greifen. Ganz genauso die entsprechenden Geschäftsmodelle, die darauf beruhen und die kongenial ineinander greifen: Während es droben zur Sache geht, basiert das Geschäftsmodell des Taxisfahrers auf dem fortwährenden Hinauf und Hinunter. Denn die gleichen Leute, die er hinauf fährt, müssen, wie er uns in seinen Taxifahrerpragmatismus einweiht, den Kopf leicht zur Seite geneigt, so dass wir jetzt im Schein der grünen Lampen, die die Auffahrt säumen, den Ansatz seines Profils ausmachen können, auch wieder hinunter gefahren werden. In diesem Sinne ist sein Geschäftsmodell vielleicht sogar dem des Bordellbetreibers überlegen, verdient er an den Leuten doch sozusagen doppelt: Wer, wie gesagt, hinauf gefahren wird, muss auch wieder hinunter!

Auch wenn das noch so schwerfallen mag! Zumal wenn die kühn nach hinten gesprochene These unseres pragmatischen Chaffeurs stimmen sollte, und es sich „dort droben“ wirklich um „das beste Bordell Europas“ handeln sollte. Klar, dass wir sofort nachhaken und die Frage nach der empirischen Basis der Hypothese aufwerfen. Das meinen die zahlreichen Gäste, so unser Chauffeur, die im Fonds seines Wagens dazu beitragen, dass sein Geschäftsmodell aufgeht. Für uns am kritischen Rationalismus Poppers geschulte Skeptiker ist dieser Hinweis natürlich nicht ausreichend. Deshalb wird so spontan wie konsequent, der Wagen biegt gerade auf die Halte- und Wendezone vorm Schlossportal ein, im Fonds des Wagen ein empirisches Forschungsprogramm geradezu epischen Ausmaßes beschlossen. In das selbstverständlich alle drei Wageninsassen entsprechend ihren jeweiligen Talenten eingebunden werden: Lassen Sie uns daran machen, die kühne Hypothese empirisch zu verifizieren und tatsächlich jedem Bordell in Europa den ihm gebührenden Besuch abstatten! Natürlich strikte Arbeitsteilung dabei wahrend: „Sie fahren, wir vögeln!“

NailLover


Postscriptum: Ich habe lange hin- und herüberlegt, wo ich diesen Text am Besten veröffentlichen sollte. Zunächst dachte ich an meinen eigenen GlamourBlog „If you can’t fix it, you gotta stand it!“ Da hätte der Text sicherlich gut hingepasst. Dann hat mich aber die starke thematische Nähe zum Klagenfurter Babylon doch dazu bewogen, den Text entsprechend zu platzieren. Aber wo? Im Berichtethread? Oder doch lieber im Smalltalk? Ich habe mich für den Berichtethread entschlossen. Auch wenn es sich nämlich bei dem Text nicht um einen sogenannten Fickbericht im strengen Sinne handeln mag, so geht es in ihm doch, einem Hinweis von Loveme – irgendwo in den Weiten des Lusthauses zum Besten gegeben – folgend, dass der Weg das Ziel sei, um das wesentliche Thema. Genau deshalb gibt es zu der Option, einen Bericht über den Weg bzw. die Anfahrt hin zum Ziel (Ficken!) – und um einen solchen Bericht handelt es sich hier ja in der Tat – im Berichtethread zu publizieren, keine vernünftige Alternative. Widmen möchte ich den Text meinem geschätzten Mitfahrer im Fonds des Wagens – und ein wenig auch unserem namenlosen Chauffeur, der mit seinem wunderbaren österreichischen Taxifahrerpragmatismus maßgeblich dazu beigetragen hat, dass das Ziel (last not least: Ficken!) schließlich erreicht wurde.
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