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Alt  14.06.2015, 12:58   # 515
Goldbär
 
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Goldbär ist offline
@maexxx

Einspruch, Euer Ehren!

Ob es rechtlich zulässig ist, wenn sich Katalanen oder Basken von Spanien abspalten wollen, Südtirol sich von Italien trennen oder Bayern aus der Bundesrepublik austreten will, ist keine Frage des Völkerrechts und auch keine Frage der Selbstbestimmung der Völker, sondern einzig eine Frage des innerstaatlichen Rechts, also der jeweiligen nationalen Verfassung. Ich kenne die ukrainische Verfassung nicht, kann mir aber nicht vorstellen, dass sie eine Abspaltung einzelner Regionen per Referendum vorsieht.

Das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine, also zwischen zwei Staaten, ist allerdings ein Thema des Völkerrechts. Hier sehe ich mindestens zwei Verletzungen durch Russland: Erstens hat Putin mit der Begründung, Russen schützen zu wollen, militärisch interveniert und so die territoriale Unversehrtheit der Ukraine verletzt. Zweitens hat Russland nicht nur ein nach nationalem Recht unzulässiges Referendum forciert, sondern auch das Ergebnis durch massenhafte Infiltration von Menschen manipuliert, denen Russland-freundliche Sezessionisten dann ukrainische Papiere ausgestellt haben, um ihnen ein Wahlrecht zu verschaffen. Darüber hinaus hat Russland auch gegen den bilateral mit der Ukraine geschlossenen Vertrag verstoßen, in dem es im Gegenzug gegen die Aufgabe des Atomwaffenarsenals durch die Ukraine ihre territoriale Unversehrtheit garantiert hat.

Nach diesen rechtlichen Scharaden hat sich der Imperialist Putin dann auch offen zu seinem ersten Ziel bekannt, die Krim als für Russland sakrosanktes Gebiet wieder seinem Land einzuverleiben und so Chruschtschows historischen Fehler zu korrigieren.

Auch die kaum verhehlten Aktivitäten Russlands in der Ostukraine stellen eine fortdauernde Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine dar. Dies um des lieben Weltfriedens willen einfach hinzunehmen, erinnert mich fatal an die diplomatisch unzulänglichen Reaktionen der Welt auf die von ****** vorgenommenen "Anschlüsse" 1938 - Ergebnis bekannt!

Eine ganz andere Frage ist, dass es sicher politisch äußerst ungeschickt war, eine Annäherung der Ukraine an den Westen zu fördern, ohne sich parallel dazu intensiv mit Russland abzustimmen; ein Fehler, der früheren, erfahrenen und für kommende Krisen sensibleren Außenpolitikern wohl kaum passiert wäre, und ohne den auch die jetzigen Reaktionen Russlands unterblieben wären.

Eine weitere, ebenfalls politische Frage ist, ob und wie diese Krise zu lösen ist. Immerhin können wir froh sein, dass derzeit US-Scharfmacher wie McCain (noch) nicht entscheiden und die Verantwortlichen (noch) auf Diplomatie setzen. Der Erfolg hängt wohl davon ab, wie einig die Weltgemeinschaft in dieser Frage auftritt und ob die Welt genügend politischen und wirtschaftlichen Druck auf Russland ausüben kann, um ein Einlenken Moskaus zu erreichen. Angesichts der machtpolitisch schwachen EU, der beginnenden Annäherung zwischen Russland und China und der zunehmenden US-Tendenz zu Waffenlieferungen in die Region sehe ich dazu derzeit eher wenig Chancen. Daher tippe ich mal, dass Putin seine Interessen durchsetzen wird und die Ukraine zuerst faktisch und dann auch politisch aufgespalten wird.

Ob und wie lange ihn das zufrieden stellt, er politisch noch Zeit für weitere "Geschichtskorrekturen" hat oder ein Nachfolger gleiches im Sinne hat, dürfte uns noch einige Zeit in Atem halten. Angesichts des hohen russischen Bevölkerungsanteils in Estland und Lettland würde sich aus russischer Sicht ein ähnliches Manöver Russlands anbieten, wenn dem nicht die NATO-Mitgliedschaft dieser Länder entgegenstehen würde. Hoffentlich konfrontiert uns Moskau nicht mit diesem Szenario und erspart uns die Antwort auf die Frage, ob die NATO dies dann tatsächlich mit allen Konsequenzen als Verteidigungsfall ansehen würde.

Nur um einigen Reflexen der Russland-freundlichen Fraktion vorzubeugen: Dass die USA auch kein Unschuldsengel ist und die EU auch nicht besonders geschickt vorgegangen ist, gibt Russland in diesem Konflikt keine moralische, und erst recht keine juristische Rechtfertigung.

Noch ein ganz anderer Punkt zum Schluss, der in dieser Diskussion überhaupt noch nicht thematisiert wurde. Ich halte es für nicht zutreffend, den Beginn oder Auslöser der Krise auf dem Majdan zu suchen. Eine tiefere Ursache scheint mir zu sein, dass die alte zentralistische Sowjetunion in ihrem Süden und Südwesten rund 50verschiedene Ethnien zählte, die mit dem Zerfall der Weltmacht auf einmal eine Chance auf Unabhängigkeit von der ungeliebten Zentralmacht sahen - eine Entwicklung, auf die weder Russland noch die übrige Welt politisch vorbereitet war und noch immer nicht ist.



Goldbär
Danke von