Sex und Spiritualität - in der abendländischen Philosophie- und Religionsgeschichte seit Jahrhunderten ein panisch bekämpftes Thema. Grausamer Höhepunkt war sicher die im Mittelalter auf äußerst grausame Weise praktizierte Verfolgung, Folterung und Verbrennung von Frauen, die ihre Körperlichkeit im Hinblick auf Heilung und Persönlichkeitsbildung lebten und die obendrein wertvolles naturkundliches Wissen über die bewusstseinserweiternden Eigenschaften von bestimmten Pflanzen besaßen.
War Sex im Westen verfemt war, so haben im fernen Osten die Traditionen von Tantra und Kamasutra die Sexualität auf verschiedene Weise in Kunst und Philosophie unverkrampft in das gesellschaftliche Leben mit einbezogen. Über die gesamten Tempelanlagen von Khajurao ziehen sich Skulpturen und Reliefdarstellungen, die sexuelles Leben so unverkrampft wie wie ästhetisch darstellen.
Zu den beeindruckendsten schriftlichen Zeugnissen gehören die Texte von Ikkyû Sôjun (1394-1481). Sein Name bedeutet übersetzt: "Die verrückte Wolke".
Er gilt als eine der populärsten und exzentrischsten Persönlichkeiten der japanischen ZEN-Kultur. Noch heute werden ihm TV-Serien gewidmet; in einer Comic-Serie ist er der Titelheld. In seiner Lebenspraxis grenzte er sich vom religiösen Establishment seiner Zeit ab, wohnte zeitweise in einem Freudenhaus, betrat in seiner Mönchsrobe Bordelle und lebte noch im hohen Alter von 80 Jahren bis zu seinem Tod eine Liebesbeziehung zu einer jungen, blinden Hure, der schönen Shin. Voll überschäumender erotischer Verehrung schreibt er über sie:
Ich erinnere mich
an einen beschaulichen Nachmittag
als sie meinen Schwanz herausfischte,
sich zu ihm hinunterbeugte
und eine Stunde lang in ihrem Mund
mit ihm spielte.
Seine Inspiration holt er sich nicht in klösterlicher Zurückgezogenheit, sondern in der Gegenwart erotischer Genüsse:
Der schönen Frauen
Liebe
Fluß ist tief.
Im Freudenhaus
finde ich
meine Gedichte
genieße
Umarmung und Kuß -
noch gebe ich mich
und die heiße Sehnsucht
nicht auf!
Ikkyû Sôjun ist ein Nonkorformist, der rebelliert, provoziert, in Frage stellt - manchmal behutsam, bisweilen äußerst schroff. Sich selbst und seine Lebensweise beschreibt er mit den Worten:
Ein verrückter Lustmolch
pendelt zwischen Liebessilo und Spelunke
Er lehrt seine Schüler, sich mit Haut und Haar in die ganze Wirklichkeit des Lebens hinein zu stürzen, insbesondere in all die Bewegungen und Begegnungen, die zur intensivsten Erfahrung von Immanenz und Transzendenz führen: der Sexualität. Seinen Schülern, die ihn suchen, ruft er zu:
Wenn ihr mich sehen wollt,
sucht mich in der Kneipe,
beim Fischhändler
oder im Freudenhaus.
Erleuchtung und Erlösung von aller Begrenztheit ist seiner Erfahrung nach nicht durch die Praxis frommer Rituale zu finden, nicht im Lösen von Kôans (paradoxe Rätselsprüche, die nicht mit den Mitteln sprachlicher und gedanklicher Logik zu lösen sind) und nicht in der Meditation.
Zögere nicht, laß dich flach legen
Herumsitzen und Sutren rezitieren -
was für ein Quatsch!
Seine hier zitierten Texte sind veröffentlicht in dem Band: Ikkyû Sôjun, Gedichte der verrückten Wolke, Angkor Verlag Frankfurt 2007